Bericht: Konferenz "Demokratie und Expertise"
Die Tagung wurde vom Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit (19.-21. Jh.) mit ihren Wissens- und Technikkulturen am Historischen Institut der RWTH Aachen in Kooperation mit dem Aachener Kompetenzzentrum für Wissenschaftsgeschichte organisiert und von Prof. Elke Seefried (Aachen), Prof. Dominik Groß (Aachen), Dr. Daniel Brewing (Aachen) und Dr. Alina Marktanner (Aachen) geleitet. Die Konferenz wurde von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung unterstützt.
Wissenschaftliche Expertise ist in demokratischen Gesellschaften der Gegenwart eine zentrale Handlungsressource und ein wichtiger Legitimationsspender für politische Entscheidungen geworden. Während demokratische Entscheidungsprozesse immer stärker von wissenschaftlicher Expertise begleitet und beeinflusst werden, Evidenzansprüche demokratische Politik also vielfach prägen, gerät genau diese Konstellation aus verschiedenen Richtungen zunehmend unter Druck: aus der Wissenschaft, in der die Konkurrenz wächst, wer als Experte Legitimation habe, um die Politik in der Demokratie zu beraten; durch politische Bewegungen wie Fridays for Future, die wissenschaftsbasierter Erkenntnis politische Priorität einräumen wollen, auch gegenüber demokratischen Entscheidungsstrukturen („Follow the Science!“); und durch politische Akteure wie die „Querdenker“, die wissenschaftliches Wissen nicht akzeptieren, sondern sich in den digitalen Gegenöffentlichkeiten auf „alternative Wahrheiten“ berufen. Zu beobachten ist so eine Pluralisierung und Politisierung von Expertise – Dynamiken also, die eng verknüpft sind mit gesellschaftlicher Polarisierung.
Die Konferenz setzte an dieser Schnittstelle an. Sie erkundete in vier Paneln in historischer und interdisziplinärer Perspektive, wie sich Selbstverständnisse, Praktiken und öffentliche Rollen von Expertinnen und Experten in Demokratien seit den 1950er Jahren veränderten und wie Expertisen umgekehrt auf demokratische Normen, Strukturen, Verfahren und Praktiken einwirkten. Damit verknüpfte die Tagung auf produktive Weise zwei Forschungsrichtungen der Geschichtswissenschaft, die bis dahin in aller Regel getrennt voneinander arbeiteten: die Forschungen zu Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit einerseits sowie die neuere Demokratiegeschichte andererseits.
Höhepunkt des ersten Konferenztages war der Abendvortrag des Zeithistorikers und Experten für Demokratiegeschichte Prof. Paul Nolte (FU Berlin) zum Thema „Volk und Philosophenkönig. Historische Schatten eines aktuellen Problems“. Er entwarf ein beeindruckendes Panorama vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart und skizzierte die Entwicklungslinien des Verhältnisses von Demokratie und Expertise im westlichen Horizont. Dabei argumentierte er, dass es sich in den letzten 250 Jahren keineswegs um ein konstantes Problem gehandelt habe. Vielmehr ließen sich bestimmte Phasen identifizieren, in denen es zu einer größeren Nähe von Expertise und demokratischer Theorie und Praxis gekommen sei, während zu anderen Zeiten das Problem wieder in den Hintergrund getreten sei. Um diese Pendelschwünge zu veranschaulichen, arbeitete Nolte vier Verdichtungsphasen aus: das Zeitalter der Aufklärung, in dem sich Vorstellungen von wissensbasiertem, methodischem Regieren etablieren konnten; die Zeit um 1900, die sich durch einen wachsenden Anspruch auf wissenschaftliche Steuerung der Gesellschaft auszeichnete; die „Hochmoderne“ der Jahre von 1930 bis 1970 als Zeitalter der Technokratie; schließlich: unsere Gegenwart, die auch geprägt ist durch einen neuen Szientismus. In der Schlussdiskussion am zweiten Veranstaltungstag fanden sowohl die hochkarätigen Beiträge als auch die reibungslose Tagungsorganisation lobend Erwähnung. Der Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit (19.-21. Jh.) mit ihren Wissens- und Technikkulturen und das Aachener Kompetenzzentrum für Wissenschaftsgeschichte bedanken sich für lebhafte und anregende Diskussionen!
Panelübersicht:
Dominik Groß (Aachen): Begrüßung
Elke Seefried (Aachen): Einführung
Panel 1: Interdisziplinäre Perspektive:
Moderation: Gabriele Gramelsberger (Aachen)
Hans-Jörg Sigwart (Aachen): Expertise und öffentliche Meinungsbildung
Alexander Bogner (Wien): Mehr Rationalität wagen? Expertise in der Corona-Krise
Panel 2: Expertise in demokratischen Entscheidungsstrukturen
Moderation: Thomas Dorfner (Aachen)
Daniel Brewing (Aachen): Brainwashing, Justiz und American Democracy in den 1950er Jahren
Christina Brandt (Jena): Deutungshoheit in den Gentechnik-/Life Sciences Debatten der 1970er /1980er Jahre in der Bundesrepublik am Beispiel der politikberatenden Gremien
Alina Marktanner (Aachen): Vom „Verbände-“ zum „Beraterstaat“? Informelle Formen der Verwaltungsberatung in der Bundesrepublik ab den 1970er Jahren
Abendvortrag
Paul Nolte (Berlin): Volk und Philosophenkönig. Historische Schatten eines aktuellen Problems
Panel 3: ExpertInnen in der (Medien-)Öffentlichkeit: Die Medialisierung von Wissen in der Demokratie
Moderation: Sven Pollmann (Aachen)
Axel Jansen (Washington): Wissenschaft mobilisiert Öffentlichkeit: Die kalifornische Stammzelleninitiative (Proposition 71) von 2004
Malte Thießen (Münster): Wer regiert die Pandemie? Zur Verwissenschaftlichung von Politik und Politisierung von Wissenschaft in Zeiten von Covid-19
Panel 4: ExpertInnen und BürgerInnen: Partizipation und Wissen
Moderation: Alina Cohnen (Aachen)
Eva Oberloskamp (München): Vorsorgeprinzip und wissenschaftliche Expertise in den gesellschaftlichen Konflikten um Atomkraftwerke während der 1970er Jahre
Maike Weißpflug (Berlin): All in the game? Citizen Science und die Genese neuer Wissensordnungen im Anthropozän
Abschlussdiskussion und Schlussworte